An der hofseitigen Turmmauer des Lochbachbads bei Burgdorf ist die hölzerne Figur eines Mannes zu sehen, der auf dem Kopf ein Hirschgeweih trägt. Was diese Figur zu bedeuten hat, weiss niemand. Und doch – vielleicht gibt es eine Erklärung. Eine lokalhistorische Betrachtung über eine merkwürdige Figur an einem besonderen Ort.
Es ist eine milde Nacht im frühen Mai. Der Vollmond verströmt sein silbernes Licht. An den Buchen wispert das frische Laub, das vor wenigen Tagen die Knospen gesprengt hat, und vom nahen Auengürtel an der schäumenden Emme weht der scharfe, belebende Duft von Bärlauch herüber.
Am rechten Flussufer breitet sich an der Stelle, wo ein natürlicher Einschnitt den felsigen Hügelzug durchbricht, eine Wiese aus. Flusswärts bildet saftstrotzendes Auengehölz, landeinwärts dichter Mischwald die Grenze der Wiese. Sie wird Jahrhunderte später einmal den Namen Lochbach tragen; jetzt aber ist der Ort noch so heilig, dass er sich in Ehrfurcht gebietende Namenlosigkeit hüllt.
Vier Feuer
Die Bewohner der umliegenden kleinen Siedlungen haben sich auf der Wiese versammelt. Am Rand der Wiese brennt in jeder der vier Himmelsrichtungen ein grosses Feuer. Die Menschen haben sich in zwei konzentrischen Kreisen aufgestellt. Den inneren Kreis bilden die Frauen, den äusseren die Männer. Im Zentrum der beiden Kreise steht ein übermannshoher Pfahl, aus dem fast zuoberst ein mächtiges Hirschgeweih ragt.
Die Kinder halten sich, beaufsichtigt von einigen alten Frauen und Männern, abseits des Geschehens unter den Tannen und Buchen auf. Am grossen Frühlingstanz teilnehmen darf nur, wer mehr als fünfzehn Lenze zählt, wer also zur Gemeinschaft der Erwachsenen gehört.
Die Frauen und Männer auf der Wiese tragen Kleider aus wollenem und leinenem Tuch, dazu Wildlederstiefel und Schmuck aus grossen Schneckenhäusern, bearbeiteten Hornplatten, honiggelbem Bernstein, matt schimmernden Muscheln, Bronzestäbchen und goldenen Kügelchen mit feinen Mustern.
Die Männer haben lange, zu Zöpfen geflochtene Haare wie die Frauen, dazu struppige Schnurrbärte, die ihnen lang über die Lippen hängen. Um ihre nackten, sehnigen Oberarme schlingen sich Schmuckspangen aus Bronze und Silber, und die Anführer tragen um den Hals zusätzlich einen offenen Ring, der aus Silber- und Golddraht kordelartig geflochten ist und beidseitig in einer Kugel endet. Die Männer halten alle einen kurzen, mit einer breiten Eisenspitze versehenen kultischen Speer in der Hand.
Zwei Kreise
Still, geradezu andächtig stehen die Erwachsenen im Kreis. Da beginnen vier alte, mit Fellstreifen und Federn geschmückte Männer mit dicken Knüppeln auf einen ausgehöhlten Baumstamm zu schlagen, in einem langsamen, beschwörenden Rhythmus. Die Männer und Frauen in den beiden Kreisen setzen sich in Bewegung, umtanzen den Pfahl mit dem Hirschgeweih in stampfenden Schritten, erstere links-, zweitere rechtsherum.
Eine Viertelstunde vergeht, eine halbe Stunde. Die Trommler steigern das Tempo. Die Tanzenden stampfen rascher. Eigentlich müssten sie längst schwitzen; aus einem unerfindlichen Grund bleibt ihre Haut aber trocken, auch sonst merken sie nicht viel von der Anstrengung.
Nach einer weiteren halben Stunde schlagen die Trommler abermals ein schnelleres Tempo an. Die Männer und Frauen werfen die Glieder entrückt nach allen Seiten, wirbeln, während sie das Geweih umtanzen, zugleich um die eigene Achse, die Augen weit und starr geöffnet. Die Mondscheibe steht hoch am Himmel. Die Feuer werfen ein rötliches Licht auf die Szenerie.
Da löst sich mit einem Mal aus den Reihen der Frauen ein schriller Schrei. Sofort stehen die Tanzenden still, erstarren mitten in der Bewegung. Die Trommel verstummt. Die Frau hat in freudiger Erregung geschrien, denn sie hat denjenigen erspäht, den alle mit Inbrunst erwarten.
Der Gott zeigt sich
Vom Fluss her nähert sich langsam eine majestätische Gestalt. Der Mann ist gross gewachsen und nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Seine Muskeln verraten Kraft und Geschmeidigkeit. Er führt einen Stock mit sich, der einer Schlange ähnelt. Und auf seinem Kopf sitzt das Geweih eines Hirsches.
Der Mann betritt die Wiese, nähert sich den Männern und Frauen. Er begibt sich zwischen die beiden Menschenkreise und schreitet die Runde gemessen ab. Er blickt den Frauen und Männern in die Gesichter und schwenkt segnend seinen Stab über sie.
Das unbewegte, ernste Gesicht des Hirschmannes ist von polierter Ebenmässigkeit. Er scheint jung und zugleich sehr alt zu sein. Aus seinen moosgrünen Augen schimmert die Weisheit von Jahrtausenden.
Ist es der Druide, der Priester der Volksgemeinschaft, der sich für dieses Ritual ein Hirschgeweih aufgesetzt hat? Oder ist es am Ende gar der Gott Cernunnos selbst, der gekommen ist, sein Volk in dieser Frühlingsnacht zu segnen, auf dass das Jahr ein glückliches und fruchtbares werde?
Vermutlich ist es sowohl der eine wie der andere. In dieser Nacht sind die Grenzen zwischen Sein und Schein aufgehoben; derjenige, der in frommem Schauspiel eine übersinnliche Wesenheit mimt, ist für einen Augenblick tatsächlich zum Gott geworden: zu Cernunnos, der sich seinem Volk zeigt.
Cernunnos stand bei den Kelten, die in den sechs Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung weite Teile Europas kulturell dominierten, in hohem Ansehen; seine Spuren lassen sich aber bis in die Jungsteinzeit zurückverfolgen.
Cernunnos ist der Herr der Tiere, der Vegetation, der Früchte und des Überflusses. Auf zahlreichen Kultgegenständen ist er abgebildet, unter anderem auch auf dem sogenannten Kessel von Gundestrup, einem keltischen Kultkessel aus Silber, der 1891 in Dänemark gefunden wurde.
Blätter am Geweih
In kunstvollen Reliefs zeigt der Kessel verschiedene Gottheiten, darunter auch Cernunnos. Er sitzt, umgeben von allerlei Tieren, mit gekreuzten Beinen am Boden. Er hat die Augen geschlossen und scheint in sich hineinzuhorchen. Um den Hals trägt er einen keltischen Fürstenring, den Torc. Mit der rechten Hand hebt er einen zweiten Torc empor, und in der Linken hält er eine grosse Schlange. Aus dem Hirschgeweih auf seinem Kopf spriessen Blätter.
Als Vegetationsgott galt Cernunnos als chthonische Gottheit, als eine der Erde – und damit der Unterwelt – angehörende Kraft also. Cernunnos bedeutet «der Gehörnte»; in seiner Eigenschaft als Wesenheit, die die Pflanzen wachsen lässt, nannte man ihn auch den «Grünen».
Sagen aus späteren Epochen setzen den Gehörnten und den Grünen bekanntlich mit dem Teufel gleich, weil die christliche Kirche die alten Götter in teuflische Mächte umgedeutet hatte.
Das Wundertier
Im Volksglauben hat Cernunnos aber nicht nur im negativen Sinn als der teuflische «Grüne» überlebt, sondern auch im positiven Sinn als der sprichwörtliche Hirsch, dem man allerlei gute, ja phantastische Eigenschaften zuschreibt.
Im Mittelalter wusste man über ihn viel Wundersames zu berichten, zum Beispiel, dass er den herannahenden Tod von sich abwende, indem er eine giftige Schlange verschlucke, diese durch reichliches Saufen ertränke und anschliessend reinigende Kräuter fresse. Dadurch kehre seine alte Kraft zurück.
In alten Zeiten wurden Hirschgeweihe an den Dachgiebeln befestigt, um Unglück abzuhalten, und dem heiligen Eustachius erschien ein Hirsch mit einem Kreuz zwischen dem Geweih. In der christlichen Deutung wurde aus dem Hirsch schliesslich die durstige Seele, die vom Wasser des Lebens trinkt und dadurch das ewige Heil erlangt.
Der Ritus des Frühlingstanzes auf der Lochbachwiese ist frei erfunden. Dass, in welcher Form auch immer, hier einst dem Cernunnos gehuldigt worden sein könnte, ist aber denkbar. Ein paar – freilich spekulative – Indizien lege ich im Folgenden kurz dar.
Der Lochbach liegt nahe bei Oberburg am rechten Emmeufer, gehört politisch jedoch zum nördlich angrenzenden Burgdorf. 1671 erhielt ein gewisser Johann Dysli von der Burgdorfer Obrigkeit die Erlaubnis, im Lochbach ein Bad zu betreiben. Später richteten hier andere Unternehmer zusätzlich eine Stahlwarenfabrik, eine Bierbrauerei, ein chemisch-pharmazeutisches Unternehmen und eine Farbenfabrik ein.
Diese Tätigkeiten sind längst eingestellt, einzig der Gastbetrieb hat sich bis 2004 gehalten. Heute wird im charmant altertümlichen, fast landschlossähnlichen Gebäudekomplex mit Torbau und Turm nur noch gewohnt. Die Anlage umschliesst hufeisenförmig einen gemütlichen Innenhof mit Bäumen und einem schönen Brunnen. Besonders an warmen Frühlings- und Sommertagen war das Lochbachbad, als hier noch gewirtet wurde, ein beliebtes Naherholungsziel.
Gnomenhafter Jüngling
An der hofseitigen Front des Turmes hängt, vor Witterung durch ein kleines Vordach geschützt, die hochinteressante Figur eines gemütvoll lächelnden Mannes. Ein wenig trägt er die Gesichtszüge eines Jünglings, ein wenig jene eines Gnoms. Er ist nackt und nur von Kopf bis Bauch zu sehen. Die Region unter dem Bauchnabel verschmilzt mit einem schildartigen Gebilde, das links und rechts je das Burgdorfer Wappen zeigt, während in der Mitte das Maul eines fantastischen Ungetüms klafft.
Das herausragendste Merkmal dieses Mannes ist aber das Hirschgeweih, das ihm gross aus dem Kopf spriesst. Hier erblicken wir Cernunnos in Begleitung seiner mythischen Schlange.
Schnitzwerk aus dem Barock
Über diese Figur ist wenig bekannt. Der Kunsthistoriker Urs Schweizer deklariert sie als «Holzschnitzerei von hervorragender Qualität» aus der Zeit um 1650; mehr ist aus ortsgeschichtlichen Schriften nicht zu erfahren.
Das Vorhandensein dieser Figur könnte darauf hindeuten, dass sich im Lochbach bis in die Barockzeit hinein eine vage Erinnerung an die Gegenwart des Gottes mit dem Hirschgeweih erhalten hat. Ganz ohne Grund wird wohl niemand auf den Gedanken gekommen sein, den Lochbach-Turm ausgerechnet mit der Figur eines Hirschmannes zu schmücken. Vermutlich trug die Person, die einst den Auftrag zur Anfertigung der Figur gab, den Nachhall alter Geschichten in sich, die von einer sagenhaften Gestalt mit Hirschgeweih berichteten.
Gränni und Grannus
Der Lochbach als uralte Kultstätte, an der die Menschen Cernunnos verehrten? Natürlich genügt allein der geschnitzte Mann mit dem Hirschgeweih nicht, um diese These zu erhärten. Ein weiteres Indiz ist der Name der Figur. Man nennt sie den «Lochbachgränni». Normalerweise bezeichnet das Mundartwort «Gränni» einen weinerlichen Menschen; das heitere Antlitz der Figur deutet aber darauf hin, dass in diesem Fall etwas anderes gemeint sein muss.
Zu denken ist an eine Lautverwandtschaft von «Gränni» mit «Cernunnos». Aus dem gallorömischen «Cernunnos» dürfte bei den Alemannen, die sich mit den Kelten vermischten, rasch einmal ein volkstümlicher «Cärni» und schliesslich, in einer humoristischen Buchstabenverdrehung, ein «Gränni» geworden sein.
Noch näher bei «Gränni» liegt der Name «Grannus»; so hiess der gallische Gott der Heilquellen. Da in alter Zeit auch dem Lochbach-Wasser Heilkraft nachgerühmt wurde, läge es eigentlich nahe, Gränni als mundartliche Variante von Grannus zu deuten. Grannus hatte aber kein Geweih; man muss ihn sich vielmehr als lichtvollen Jüngling in der Art des griechischen Gottes Apollo vorstellen. Trotzdem könnte auch ein wenig der Heilquellengott Grannus hineingespielt haben, als der Lochbachgränni seinen Namen erhielt.
Grabhügel aus der Bronzezeit
Dass die Holzfigur am Turm des Lochbachbads wirklich Cernunnos darstellt, gewinnt zusätzliche Wahrscheinlichkeit dadurch, dass die Kelten Cernunnos meist am Fuss einer Erhebung verehrten, auf der nach ihrer Vorstellung der Lichtgott Lugh oder Pol hauste. In unserer Gegend lässt sich unschwer die Lueg ob Heimiswil – bezeichnenderweise auch Pöli genannt – als Hügel des Lugh alias Pol identifizieren. Am Fuss der Lueg beziehungsweise ihrer Ausläufer aber liegt der Lochbach.
In der Nähe des Lochbachbads befindet sich im Wald ein Grabhügel aus der Bronzezeit. Gräber sind zu allen Zeiten bevorzugt an heiligen Stellen angelegt worden, man denke nur an die christlichen Friedhöfe in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Kirchen.
Auch die Sagen, die sich um den Lochbach ranken, unterstreichen die besondere Bedeutung des Ortes (siehe Anhang). Zwar handeln die Sagen in neuerer Zeit; vermutlich würde ein Kenner in ihnen aber die Fragmente weit älteren Sagengutes entdecken.
Die Kraft der Natur
Nicht zuletzt aber ist es die Natur selber, die dem Lochbach einen Hauch von urwüchsiger Mystik verleiht. Der Auenwald, der das rechte Emmeufer von der Wintersey bis zum Lochbach säumt, zeichnet sich durch besondere Natürlichkeit, Üppigkeit und Kraft aus.
An majestätischen Bäumen rankt sich Efeu empor, und an dichtem Buschwerk spinnt die Waldrebe ihr weiss blühendes und süss duftendes Geschlinge. Ein kleines Bächlein rinnt glitzernd dahin, am Fuss einer Sandsteinfluh grünt ein stiller Teich, und im Frühling ist der Boden auf weiten Strecken über und über mit Bärlauch bedeckt.
Wer durch diesen Wald wandert, wähnt sich streckenweise fast in einem tropischen Regenwald. Nirgends in weiter Umgebung scheint der Gott der Vegetation und der Tiere so sehr zu Hause zu sein wie gerade in diesem üppigen Stück Auenwald.
Hätte Cernunnos den Doppelkreis der Tanzenden nur ein- oder zweimal abgeschritten, müssten die Menschen nun mit einem mässigen Jahr rechnen. Oder gar mit einem schlimmen Jahr – dann nämlich, wenn sich der Gott die ganze Nacht über nicht gezeigt hätte. Das ist auch schon vorgekommen, zum letzten Mal zu den Zeiten der Grossmütter. Damals musste eine junge Frau geopfert werden, um die Kräfte der Natur gnädig zu stimmen.
Jetzt aber hat sich Cernunnos gezeigt, und er hat die Runde dreimal gemacht: Ein gutes Jahr steht bevor. Die Jagd wird glücklich, der Nachwuchs gesund, die Ernte reich sein. Die Menschen sind dankbar und froh.
Cernunnos verlässt die Wiese des grossen Frühlingstanzes. Langsam verschwindet er zwischen den schlanken Stämmen, die den Übergang von der Wiese zum Auenwald bilden. Dann verschluckt ihn das dichte Gebüsch. Sein Geweih verschmilzt mit dem Geäst. Er ist weg. Nächstes Jahr um dieselbe Zeit wird er sich den Menschen wieder zeigen. Vielleicht – hoffentlich.
Das grosse Lachen
Die Mondscheibe neigt sich dem Horizont entgegen. Die Menschen erwachen aus ihrer ehrfurchtsvollen Starre, beginnen zu reden, zu rufen, zu singen und fröhlich zu lachen. Sie holen ihre Kinder und Alten und ziehen wieder ihren Dörfern entgegen. Sie werden zu Hause ein wenig schlafen und dann ein grosses Frühlingsfest feiern. Sie werden schmausen, musizieren, tanzen und Cernunnos für den Segen, den er ihnen heute Nacht gespendet hat, danken.
Die grossen Feuer sind verlöscht, die Stimmen der Menschen verstummt. Dunkel liegt sie da, die Wiese des grossen Frühlingstanzes.
Der Heimiswiler Mundartschriftsteller Hans Steffen erzählt in seinem Sagen- und Gespensterbuch «Es git no Sache änedra» unter anderem auch die gespenstischen Geschichten rund um den Lochbach. Nachfolgend gebe ich sie in eigenen Fassungen auf Hochdeutsch wieder.
In einer hellen Mondnacht im Sommer angelte ein Mann am rechten Ufer des Lochbachweihers. Auf einmal sah er eine Frau, die vom Lochbachbad her kam. Sie trug ein Bündel mit sich. Am Ufer des Teichs blieb sie stehen und sah sich suchend um. Schliesslich fand sie, was sie suchte: einen grossen Stein. Sie band ihn an ihrem Bündel fest und warf es weit in den Teich. Das Bündel sank, vom Stein beschwert, lautlos in die Tiefe.
Da kam eine hohe, brausende Welle auf die Frau zu. Sie wollte der Welle ausweichen, doch die Glieder versagten ihr den Dienst. Starr blieb sie stehen. Die Welle umspülte sie bis zu den Knien. Dann kam eine zweite Welle, die ihr bis unter die Arme reichte. Die dritte Welle schliesslich spülte sie in den Teich. Die Frau versank in den Fluten.
Der Angler rannte ins Lochbachbad und meldete, was er gesehen hatte. Ein paar Männer gingen daraufhin zum Teich und suchten den Teichgrund mit langen Hakenstangen ab. Sie fanden den Leichnam der Frau, und sie fanden auch das Bündel: Es enthielt ein wenige Tage altes Büblein.
Niemand kannte die Frau und das Kind. Verschiedene Leute wollten sie daraufhin in Vollmondnächten gesehen haben, wie sie am Weiher nach ihrem Kind suchte. Näherte man sich ihr, verschwand sie auf unerklärliche Weise.
Immer wieder ging die Rede, beim Lochbach sei es nicht geheuer; so erzählten manche Leute von einem Licht, das dort von Zeit zu Zeit um Mitternacht im Freien umherirre und schliesslich im Teich versinke. Zuweilen kam es auch vor, dass einsame Wanderer, die in der Nacht beim Lochbachweiher vorbeikamen, plötzlich neben sich einen schwarzen Wolfshund sahen. Manche beschrieben ihn als ungeheuerlich gross, und andere wiederum versicherten, er sei nicht grösser als andere Hunde auch.
Eine Busswilerin, die in Oberburg in einem Chor sang, berichtete, dass sie dem Hund oft begegnet sei. Wenn sie sich nach der Gesangsprobe zu Fuss auf den Heimweg gemacht habe, sei der Hund immer an derselben Stelle beim Lochbachweiher plötzlich aufgetaucht und habe sie friedlich bis zum Wirtenmoosweg begleitet. Dort sei er jeweils ebenso plötzlich, wie er aufgetaucht sei, wieder verschwunden.
Polizeistunde. Die letzten paar Gäste, die der Wirt des Oberburger Restaurants Bahnhof soeben hinauskomplimentiert hatte, standen draussen auf dem Platz und plauderten noch ein wenig. Da kam ein Mann angerannt und berichtete atemlos, was er soeben erlebt hatte:
«Ich kam vom Lochbach her und wollte über den Emmesteg gehen; da schritt mir auf dem Steg ein grosser, hagerer Mann mit einem Bündel Holz auf den Schultern entgegen. Der Mann hatte schneeweisse, lange Haare und war seltsam altertümlich angezogen. Er trug einen langen blauen Frack mit zwei Reihen silberner Knöpfe, spitze Schnabelschuhe mit silbernen Schnallen und einen grossen dreieckigen Hut, wie man sie zuweilen auf alten Soldatenbildern sieht.
Das Bündel Holz, das er auf dem Rücken trug, war so breit, dass wir uns auf dem schmalen Steg nicht ausweichen konnten. Ich wollte zurückgehen, um ihn durchzulassen – da stand der Mann plötzlich hinter mir. An mir vorbeigegangen ist er bestimmt nicht, und übersprungen hat er mich auch nicht; er ging einfach mitten durch mich hindurch, ohne dass ich davon etwas merkte. Da rannte ich los, wie ich nur konnte.»
Nicht viel später erzählte ein Burgdorfer, dass er es um Mitternacht bei einer grossen Pfütze im Schachenwald plötzlich habe plätschern und gurgeln hören. Er habe hingeschaut und ein grosses Holzbündel aus dem Wasser hervorkommen sehen, darunter einen Kopf mit langen, schneeweissen Haaren und schliesslich einen grossen, hageren Mann in einem blauen Frack mit zwei Reihen silberner Knöpfe.
Auf dem Kopf habe er einen dreieckigen Hut getragen, gerade so wie die Soldaten auf den alten Bildern im «Landhaus». Mit einer Hand habe der Mann das Holzbündel auf dem Rücken gehalten, und mit der anderen habe er sich am Gesträuch emporgezogen. Das Wasser sei ihm aus dem Hut gelaufen, es habe im Mondschein geglitzert wie Silberfäden.
«Ich konnte nicht mehr länger zusehen – ich rannte, wie ich konnte, und als ich zu Hause ankam, fror und schüttelte es mich, als hätte ich hohes Fieber», schloss der Burgdorfer.
Mitternacht war’s. Ein Knecht vom Wirtenmoos ging über den Geissrücken beim Lochbach nach Hause. Auf dem Geissrücken stand plötzlich ein grosser, hagerer Mann vor ihm. Einen langen blauen Frack trug er und einen dreieckigen Hut – eine seltsame Uniform. Schneeweisses Haar hing ihm unter dem Hut hervor. In der linken Hand hielt er eine Laterne, in der rechten ein Beil.
«Was machst du da?», fragte der Knecht und wunderte sich, woher er den Mut genommen hatte, den unheimlichen Mann anzusprechen. «Ich suche dürre Tännchen», antwortete dieser. «Diese muss ich anzeichnen für die armen Leute, die es sich nicht leisten können, Brennholz zu kaufen.»
Kaum hatte er das gesagt, verschwand er, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. Der Knecht sah nur noch das Licht, wie es den Wald hinunterging und beim Lochbachweiher erlosch.
Ein anderes Mal ging ein Busswiler mitten in der Nacht von Oberburg heimzu. Zuunterst am Lochbachstutz sah er einen grossen, hageren Mann mit schneeweissen Haaren, der sich mit einer Schubkarre voll Erde abmühte. Obwohl der Mann mit aller Kraft schuftete, gelang es ihm doch nicht, die Karre in Bewegung zu setzen.
Der Busswiler wollte den Mann fragen, was er denn da mache; der andere schien aber seine Gedanken gehört zu haben und antwortete: «Schweig, schweig, ich habe keine Zeit zum Reden; muss Berge versetzen, Berge versetzen, Berge versetzen!» Dann machte er sich wieder ans mühevolle Werk, ohne dabei vom Fleck zu kommen.
Der Busswiler wollte nicht an dieser unheimlichen Szenerie vorbei. Er ging zurück und machte einen grossen Bogen um den Mann mit den weissen Haaren. Erst im Füllbach oben schwenkte er wieder auf das Strässchen ein. Aber noch dort oben dünkte es ihn, als hörte er den anderen am Stutz unten ächzen und stöhnen.
Hans Steffen schiebt in seinem Buch einen Abschnitt nach, den er als «fast so etwas wie eine Erklärung» für die Spukgeschichten über den alten Lochbacher bezeichnet.
Schon als kleiner Bub habe er, Steffen, alte Leute von einem steinreichen Mann erzählen hören, der seinerzeit im Lochbach gelebt haben solle und ein ganz unguter Mensch gewesen sei, vollständig gottlos und ungläubig.
Damals besuchten die Busswiler den Gottesdienst meist noch in Oberburg. Besagter Mann regte sich jeweils fürchterlich auf, wenn er die Kirchgänger beim Lochbach vorbeikommen sah. Die Bibel sei doch das elendeste Lügenbuch, das je geschrieben worden sei, pflegte er angeblich zu spotten. Es sei ersonnen und zusammengelogen worden von Pfaffen, die den dummen Leuten damit hätten Angst machen wollen.
Was für Blödsinn in diesem Buch stehe, sehe man schon nur daran, dass es heisse, mit dem Glauben könne man Berge versetzen. Das sei doch der blanke Unsinn; soviel er wisse, habe man dazu noch immer Schubkarren gebraucht.
Die armen Leute verachtete, schikanierte und verfolgte er, wie und wann immer er konnte. Manchmal kam es vor, dass er beim Emmesteg Posten bezog, wenn er eine arme Oberburger Frau im Buchenwald Holz sammeln sah; auf dem Steg entriss er der Frau das Holzbündel, warf es in die Emme und lachte teuflisch, wenn das Bündel gegen Burgdorf hinuntertrieb.
«Viel wurde berichtet von diesem reichen Alten im Lochbach», schreibt Steffen. «Manche Leute nannten sogar einen Namen, den Namen eines bekannten Burgdorfer Geschlechts; ich selber habe den Mann aber nie gekannt, und vielleicht liegen diese Sachen ja auch viel weiter zurück. Darum will ich keinen Namen brauchen und nenne diesen Mann einfach nur – den alten Lochbacher.»
© Hans Herrmann
Geschrieben im Jahr 2001, überarbeitet im Dezember 2021
Hans Herrmann, Jahrgang 1963, wohnhaft in Burgdorf, der Stadt im Emmental. Verheiratet, Vater zweier Söhne. 1982 bis 1988 Theologiestudium in Bern. Von 1996 bis 2012 Redaktor bei der «Berner Zeitung», heute Redaktionsleiter Bern der Monatszeitung «reformiert». Autor von Romanen, Lyrik, Theaterstücken und volkskundlichen Schriften.