Und gehe darob die Welt zugrunde

Kennt ihr die Geschichte von Michael Kohlhaas, dem Rosshändler? Als sich ein Adliger an seinem Eigentum vergriff und an seinem Knecht Gewalt ausübte, schlug er zurück. Sein Waffengang war ein «gerechter Krieg», der komplett aus den Fugen geriet. Eine alte Geschichte – und doch brandaktuell. Weltenbrandaktuell.

Eben habe ich wieder einmal Heinrich von Kleists Novelle «Michael Kohlhaas» gelesen. Ein Meisterstück, auch sprachlich – wobei die unbändige, atemlose, architektonisch wild aufgetürmte Sprachgewalt beziehungsweise Gewaltsprache einer heutigen Leserschaft fremd vorkommen mag. Vielleicht sollte man zusätzlich zum Original auch noch eine gut lesbare Bearbeitung publizieren, um es möglichst vielen Leuten einfacher zu machen.

 

Die Geschichte handelt vom brandenburgischen Pferdehändler Michael Kohlhaas, der irgendwann in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit Pferden ins Sächsische zieht, um sie dort zu verkaufen. An der Grenze lässt er einem Adligen zwei Pferde als Pfand für den fehlenden Passierschein zurück, dazu einen seiner Knechte.

 

Als Kohlhaas von seiner Geschäftsreise zurückkommt und die Pferde beim Adligen abholen will, erfährt er, dass man sie bei schlechtem Futter hart hat arbeiten lassen. Die Tiere sind abgemagert und krank und haben an Wert deutlich verloren. Zudem ist sein Knecht halb zu Tode geprügelt und von den scharfen Hunden des Junkers angefallen worden. Kohlhaas klagt den Übergriff auf seine Pferde und den brutalen Angriff auf seinen Knecht bei der Obrigkeit ein, wird aber abgewiesen.

 

Da nimmt Kohlhaas die Sache selbst in die Hand. Er rüstet zur Fehde, die mit einem Überfall auf die Burg des Adligen beginnt und schliesslich zum Flächenbrand wird. Der Pferdehändler setzt zwei Städte in Flammen, und ein Teil seiner Privatarmee überzieht ganze Landstriche mit Raub, Mord und Totschlag.

 

Es ist die Geschichte eines moralisch im Prinzip gerechtgertigten Waffengangs, der völlig aus den Fugen gerät. Bis zuletzt – bis zu seinem Ende unter dem Beil des Scharfrichters – ist Kohlhaas aber überzeugt, im Namen der Gerechtigkeit gehandelt zu haben. Ihm ging es um sie, um nichts anderes.

 

Krieg als Urgewalt

Wer die Geschichte gelesen hat, stellt sich unweigerlich die Frage: Wie weit soll man gehen, um Ungerechtigkeit zu sühnen? Im modernen Rechtsstaat gibt es ein fein eingestelltes Justizsystem, das so angemessen als irgend möglich versucht, verletztes Recht wieder ins Lot zu bringen.

 

In der Welt der Mächtigen ist die Justiz aber oft machtlos. Vor allem dann, wenn es um Krieg geht. Krieg ist eine Urgewalt, dem die Juristen, die Religion, die Philosophie, die Menschlichkeit und die Vernunft nichts entgegenzusetzen haben – ausser Kampf und Krieg, wie es scheint.

 

Recht vernünftig war seinerzeit der Preussenkönig Friedrich Wilhelm I. (1688 – 1740). Dieser Monarch hatte zwar eine Schwäche für das Militär und insbesondere für seine Leibkompanie, die aus lauter «langen Kerls» bestand. Deshalb nannte man ihn den Soldatenkönig. Militärische Konflikte vermied er aber zeitlebens, und seinen Sohn als designierten Nachfolger ermahnte er, nur ja nie einen Angriffskrieg zu führen, denn wer einen anderen Staat überfalle, setze sich automatisch ins Unrecht und trage Schuld am Tod jedes einzelnen Soldaten, der in diesem Krieg falle.

 

Und was tat der ehrgeizige Sohn, kaum war der Vater verstorben und er selber als König Friedrich II. von Preussen inthronisiert? Er stellte sich an die Spitze der von seinem Vorgänger ererbten Armee und überfiel am 16. Dezember 1740 die österreichische Provinz Schlesien. Dieser unrechtmässige Angriffskrieg weitete sich im Lauf zweier Jahrzehnte zum eigentlichen Weltkrieg aus, der Hunderttausende Opfer forderte. Aber der Preussenkönig blieb Sieger und durfte seine Beute behalten.

 

Sachliche Frage, sachliche Antwort

War es diesen Einsatz wert, aufseiten des Angreifers, aber auch aufseiten der Verteidiger? Aus historischer Distanz ist es möglich, diese Frage nicht emotional, sondern rein sachlich zu stellen. Ebenso sachlich fällt die Antwort aus: Nein, das war es wohl nicht. Man müsste nur, wenn man noch könnte, all die an Leib, Leben und Seele Geschädigten fragen, die Verstümmelten, Vertriebenen, Verstorbenen, all die im Schlamm der Schlachtfelder elend Umgekommenen – und deren Mütter, Ehefrauen und Kinder.

 

Mit seinem Überfall auf Schlesien setzte sich Friedrich ins Unrecht, sogar sein militärbegeisterter Vater hatte ihn vor einem solchen Schritt gewarnt. Die Habsburger jedoch, die sich gegen den aggressiven König militärisch zur Wehr setzten, waren im Recht. Ihr Verteidigungskrieg war ein «gerechter Krieg». Und wer sich im Recht weiss, hat alle Rechte. Ganz nach dem römischen Grundsatz: «Fiat iustitia et pereat mundus», zu Deutsch «Es werde Gerechtigkeit, und gehe darob die Welt zugrunde».

 

Das Arsenal des Schreckens

Damals, zu Friedrichs Zeiten, konnte man mit einem langen Krieg bereits beträchtliches Unheil stiften. Die ganze Welt zugrunde zu richten, dazu war man aber noch nicht in der Lage – weder im Namen der Gerechtigkeit noch sonst wie. Das Arsenal, das es dazu gebraucht hätte, existierte nicht.

 

Heute haben wir die Mittel dazu. Angesichts dieser Tatsache gewinnen der römische Rechtsgrundsatz und die mit ihm verbundene Frage eine unheimliche Dimension. Soll man bis zum Äussersten gehen, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun? Was ist das Ziel, was darf es kosten? Darf es schlimmstenfalls sogar die ganze Welt kosten, ausgeglüht in einem atomaren Inferno?

 

Eigentlich liegt die Antwort auf der Hand. Umso erstaunlicher ist es, dass man sie im aktuellen Konflikt, den Europa derzeit in Atem hält, fast salopp zur Seite schiebt und stattdessen in den Spuren von Michael Kohlhaas wandelt: unnachgiebig und hartnäckig sich mit Waffengewalt schrittweise in den Weltenbrand hineinsteigernd, die eine Seite sogar im allgemein anerkannten Einklang mit der Gerechtigkeit.

 

Eine Alternative wäre allemal die Diplomatie und der Versuch, kriegerische Entgleisungen zivilisiert am Verhandlungstisch zu bereinigen. Das scheint im Moment aber niemand zu wollen, weder hüben noch drüben. Lieber setzt man darauf, den jeweils anderen mit noch martialischeren Reden, noch entschlossenerem Vorgehen und noch verheerenderen Waffen herauszufordern. Es herrscht rundum eine fatale Begeisterung für dieses Höllenspiel. Bei denen, die angefangen haben. Und ebenso bei denen, die zurückschlagen, mit Berufung auf die Gerechtigkeit. Fiat iustitia et pereat mundus.

 

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Nachtrag. Kurz nach Fertigstellung dieses Textes bin ich in der neuesten Ausgabe von «NZZ Geschichte» (Dezember 2024) auf ein Interview mit dem britischen Historiker Richard Overy gestossen, bei dem es um die dem Menschen tief innewohnende Veranlagung zum Krieg geht. «Kollektive Gewalt gehört zur Geschichte der Menschen», sagt der Forscher im Interview. Die Menschen seien psychologisch so gebaut, dass sie Krieg als Möglichkeit zur Lösung eines Problems sähen. «Krieg ist keine seltene Verirrung, sondern üblich. Leider.»

 

Daran wird sich laut Overy so schnell auch nichts ändern. Zwar sei heute die militärische Klasse nicht mehr so dominant wie etwa im Mittelalter. Aber am Willen von Staaten oder staatlicher Akteure, Probleme mit kollektiver Gewalt zu lösen, habe sich nichts geändert. «Nun rüsten auch die westlichen Staaten wieder auf. Ich spüre allenthalben Kriegsbegeisterung. Ja, ich bin ein Pessimist.»

 

Doch Overy hält – und das mag jene, die allzu pessimistisch sind, vielleicht ein bisschen beruhigen – auch fest: «Die Angst vor einem Weltkrieg ist ein Hirngespinst. Aber es wird weitere Kriege geben. Das lehrt das Studium des Kriegs. Wir können ihn erklären, aber nicht verhindern.»

 

© Hans Herrmann

Geschrieben im November 2024