Im Angesicht des Drachen

China ist in aller Munde. Allerdings erzählt man sich bei uns im Westen über das aufstrebende Reich der Mitte meist nichts Erfreuliches. Dabei täten wir gut daran, uns mit dem chinesischen Drachen, der uns schon jetzt überflügelt hat und noch weiter überflügeln wird, etwas differenzierter auseinanderzusetzen.

Ja, die problematischen Seiten sind mir bewusst. China tritt auf der Weltbühne imperialistisch auf, und das Regime ist autoritär, die Freiheit des Einzelnen zählt wenig. Mit den Menschenrechten steht es nicht zum Besten, dasselbe gilt für den Tierschutz, die Pressefreiheit und die Unbestechlichkeit. Die Menschen dort sind mehrheitlich streng nationalistisch, wurden im Geist von Drill und Gehorsam erzogen und leben in vereinnahmenden Strukturen. Nach wie vor dominiert das Patriarchat, und die soziale Kontrolle mittels Elektronik ist allgegenwärtig.

Und doch. Der Staat im Herzen Ostasiens ist im Vormarsch – wir im geschwächten Westen sind uns dessen in einer Mischung aus Ablehnung und Bewunderung bewusst. Der kommunistische Kapitalismus in China blüht, die Armutsquote konnte in den letzten Jahrzehnten drastisch gesenkt werden, das riesige Land mit seinen gut 1,4 Milliarden Einwohnern ist strebsam und erfolgshungrig, während bei uns die Armut zu- und die Leistungsbereitschaft merklich abnimmt. Die Volksrepublik China ist nach den USA heute die Weltwirtschaftsmacht Nr. 2 – und steht, wenn man die Kaufkraftparität mit berücksichtigt, sogar an erster Stelle.

Wenn wir also wissen wollen, wie die Leute ticken, die uns nach dem kaum noch aufzuhaltenden Niedergang unseres westlichen Imperiums beerben werden, müssen wir zum Reich der Mitte blicken. Warum ist es so erfolgreich?

Ungebrochene Tradition
Ich bin kein China-Experte. Eine vertiefte Analyse will ich mir nicht anmassen. Doch immerhin haben mir Abhandlungen von kompetenten Autoren und Gespräche mit Leuten, die mit Land, Leuten und Kultur vertraut sind, einige Erkenntnisse beschert.

Zunächst: China ist ein Land mit einer hochkulturellen Tradition, die 4000 Jahre alt ist und nie einen wirklichen Bruch erlitt. Das ist weltweit einzigartig. Alle anderen Hochkulturen sind irgendwann untergegangen: die sumerische, babylonische, karthagische und ägyptische Kultur, jene der Maya, Inka und alten Römer. Die der Chinesen hingegen hat sich seit ihren Anfängen ungefähr 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung bis in die Gegenwart erhalten, mit gelegentlichen Tiefpunkten, die jedoch immer wieder überwunden wurden.

Die Chinesen sind stolz auf ihre Tradition – anders als der zerfallende Westen, der unter dem Einfluss eines fiebrigen Zeitgeists seine eigene Tradition schlechtredet. Wer sein kulturelles Erbe mit Füssen tritt, fällt in den luftleeren Raum und stürzt ab. Wer aber, wie die Chinesen, die überlieferten Errungenschaften seiner Kultur hochhält, setzt auf Kontinuität und baut auf fruchtbarem Boden.

Lernen als Hochamt
Weiter: In China prägen vier Ideale die Mentalität, nämlich die sittliche Ausrichtung des Menschen, das Eingebundensein in die Gesellschaft, diszipliniertes Lernen sowie Respekt vor denen, die auf ihrem Gebiet Meisterschaft erlangt haben. Diese Prinzipien haben ihren Ursprung in der Lehre des Staatsphilosophen Konfuzius (551 bis 479 v. Chr.), der in China noch heute grossen Einfluss ausübt.

So ist denn Lernen für die Chinesen nicht einfach ein notwendiges Übel, sondern eine Leidenschaft, fast eine heilige Pflicht, die sie mit grossem Ehrgeiz seit vielen Generationen pflegen. Im alten China war die Beamtenschaft nach ihrem Bildungsstand gegliedert; die wichtigsten Posten erhielten jene, die nicht nur über breite Kenntnisse in politischen und verwaltungstechnischen Fragen verfügten, sondern auch historisch, philosophisch, literarisch und erziehungswissenschaftlich beschlagen waren. Gewissenhaftes Lernen und das Bestehen von Prüfungen garantierten eine erfüllende Verwaltungslaufbahn. Zufall hingegen, Beziehungen und geschickte Selbstinszenierung spielten nur eine untergeordnete Rolle.

Gabe und Gegengabe
Und weiter: China kennt seit den Zeiten, als es noch ein Kaiserreich war, eine ganz besondere Art der Expansion. Der Drachenthron vergrösserte seine Einflusssphäre in Ostasien nicht mit Eroberungskriegen und anschliessender Ausradierung der unterworfenen Kulturen. Vielmehr schuf er um sich herum einen Gürtel mit Vasallenstaaten, die tributpflichtig waren. Dies bedeutete weder Fron noch Last, sondern die Verpflichtung des Vasallen, dem chinesischen Kaiser mit einer angemessenen Gabe Respekt zu zollen. Darauf folgte die Gegengabe des Kaisers.

Dieser symbolische Austausch von Geschenken berechtigte zu direkten Geschäftsbeziehungen mit China und zog einen lebhaften Handel zu Land und zu Wasser nach sich, dazu einen kulturellen Wissenstransfer. Auf der legendären Seidenstrasse gelangten chinesisches Wissen und chinesische Waren bis nach Europa – freilich nicht über den Vasallenstatus, sondern auf dem Weg des Zwischenhandels zum Beispiel mit Persien.

Gegenwärtig arbeitet China mit Hochdruck an einer neuen Seidenstrasse. Im Westen verfolgt man dieses Projekt, das weltweit in gewisser Weise wiederum Vasallen generieren wird, mit grösstem Misstrauen. Von dieser geballten und im grossen Stil ausgespielten asiatischen Power will man sich nicht vereinnahmen oder gar in Abhängigkeit bringen lassen. Obwohl man schon längst abhängig ist, wie die Corona-Pandemie eindrücklich gezeigt hat. Als damals in China die Produktionsstätten auf Sparflamme liefen, kam es zu Lieferengpässen, die sich in der westlichen Elektronikbranche stark auswirkten und auch im Pharmageschäft zu Knappheit führten.

Auf Distanz
Vermutlich führt kein Weg an der Seidenstrasse vorbei. Der Westen, der derzeit in irrationalem Selbsthass seine Traditionen, Werte und kulturellen Errungenschaften auflöst und sich selber abschafft, hat dieser Entwicklung wenig entgegenzusetzen. Es bleibt uns wohl nicht anderes übrig, als uns früher oder später mit den neuen Herren der Welt irgendwie ins Benehmen zu setzen. Ich spreche nicht von Anbiederung oder Unterwerfung, sondern von einem klugen und neugierigen Umgang möglichst auf Augenhöhe. Vielleicht wäre es an der Zeit, Chinesisch zu lernen. Die chinesische Symbolschrift ist zwar weniger praktisch als unsere Lautschrift, aber für mein Empfinden weltweit die schönste.

Und die Chinesen? Wie stehen sie zu uns? Ich weiss es nicht, versuche es manchmal in den Gesichtern der chinesischen Touristinnen und Touristen zu ergründen, die in geführten Gruppen die Berner Altstadt aufsuchen – aber ich werde nicht fündig.

Ich blicke in die Gesichter der älteren Gäste und lese in ihnen Ernst, Würde und Zurückhaltung, aber keine Anzeichen des menschlichen Einverständnisses mit mir, dem Westler. Angehörige der jüngeren Generation, die sich vor dem Zytglogge-Turm oder im Rosengarten gegenseitig mit dem Handy fotografieren, sind munter und quirlig, dazu betont westlich gekleidet – rein oberflächlich ist kaum ein kultureller Unterschied zu ihren Schweizer Altersgenossen zu erkennen. Aber auch sie, die jungen Chinesinnen und Chinesen, sind durch keinen Blickkontakt, durch keine spontane Gebärde, kein freundliches Lächeln aus ihrer Reserviertheit gegenüber uns, den «anderen», zu locken. Für sie sind wir vermutlich immer noch die «westlichen Barbaren».

Es wird brenzlig
Ob uns China gerade den Spiegel vorhält? Sind wir tatsächlich die «westlichen Barbaren»? Wenn es um die Bereitschaft geht, Herrschaftsansprüche gewaltsam durchzusetzen, vermutlich schon. Nur zu deutlich zeichnet sich ab, dass es zwischen China und dem Westen zum bewaffneten Konflikt kommen wird beziehungsweise kommen soll.

Entzünden wird er sich zweifellos an der Taiwan-Frage. Die autoritäre Volksrepublik China beharrt darauf, dass der demokratische Inselstaat zu ihr gehöre, während Taiwan unabhängig bleiben möchte. Derweil liegt Amerika, die wirtschaftlich, politisch und kulturell mehr oder weniger abgehalfterte Führungsnation des Westens, auf der Lauer und wartet nur darauf, dass China in dieser Sache eine falsche Bewegung macht.

Oder sollten westliche Falken den chinesischen Drachen sogar aktiv provozieren? Damit er endlich Ernst macht, in Taiwan militärisch einfällt und sich so ins Unrecht setzt? Dann könnte Amerika seine geballte Waffenkraft, über die es immerhin noch verfügt, getrost zum Einsatz bringen und dürfte sich erst noch im moralischen Recht wähnen. Solche Vorgänge kommen häufiger vor, als einem lieb ist.

Die besten Kräfte wecken
Leider sieht es im Moment tatsächlich so aus, dass nicht ein Aufblühen der Neuen Seidenstrasse das Weltgeschehen bestimmen wird, sondern ein Waffengang des niedergehenden Westens mit dem aufgehenden Osten. Dass jemand siegreich und gestärkt aus einem Krieg, wie ihn diese zwei Giganten zu führen in der Lage sind, hervorgehen wird, ist nicht zu erwarten. Und wenn die Welt in Schutt und Asche liegt, werden wir nicht Kenntnisse in Chinesisch brauchen, sondern Fertigkeiten in der Landwirtschaft. Zurück zum Pflug – so lautet ein Essay, in dem ich über ein Neuerstehen der traditionellen Agrargesellschaft nachdenke.

Vielleicht aber geschieht ein Wunder, und der Krieg bleibt aus. Dann führt der Weg wohl doch über die Seidenstrasse. Und vielleicht können der Westen und der Osten voneinander lernen. Die Stärke des Ostens liegt in der Disziplin, die Stärke des Westens im freien Diskurs (obwohl die westliche Diskurskultur derzeit in einer Krise steckt). Ein Zusammengehen könnte die besten Kräfte der globalen Gemeinschaft wecken und die Menschheit in eine erspriessliche Zukunft führen. Lasst uns Chinesisch lernen. Chinesische Dichtung und Philosophie in der Originalsprache lesen zu können, wäre so oder so ein Gewinn. Und der Weltuntergang kann warten.

 

© Hans Herrmann

Geschrieben im Mai 2024

 

PS: Wer meinen ausführlichen Kommentar zum gegenwärtigen Zerfall der westlichen Kultur lesen möchte, kann bei mir per E-Mail das 148-seitige Büchlein «Niedergang» bestellen, das ich Interessierten bei Nennung der Postadresse kostenlos zukommen lasse.