Cantare, oh oh oh oh…

Wenn ich als Musikliebhaber im Gespräch mit anderen Musikbegeisterten zuweilen gefragt werde, welches Instrument in meinen Augen wohl das schwierigste sei, antworte ich prompt: der Gesang. Und dazu stehe ich, auch wenn sich die anderen jeweils etwas wundern: Es ist der Gesang. Die eigene Stimme intonationssicher, ausdrucksstark und wohlmoduliert so zum Klingen zu bringen, dass die Melodie zum Leben erwacht und die Hörenden berührt, ist die höchste der musikalischen Künste. Denn da ist kein Instrument, das der ausübenden Person die halbe Arbeit abnimmt – die singende Person selbst ist das Instrument.

 

Nein, ich selber singe nicht. Die Ära, als ich in der Funktion des Tastenmanns einer Amateur-Rockband auch noch im Background mehr mitkrächzte als -sang, ist längst vorbei. Und vorbei sind auch die 1960er-Jahre, in denen am Radio häufig der glasreine Knabensopran von Heintje erklang. Der niederländische Kinderstar, etwa im selben Alter wie ich, gab Schlager wie «Mama» zum Besten, «Ich bau’ dir ein Schloss» oder «Heidschi Bumbeidschi». Unter der Bettdecke spielte ich vor dem Einschlafen manchmal Heintje und spürte etwas von der Beschwingtheit, ja Euphorie, die einen beim Singen ergreifen kann. Auch in der Schule sang ich gerne und offenbar ganz brauchbar, wie mir die Lehrerin versicherte.

 

Und heute, heute gehöre ich zu den Gesangsmuffeln. Meine Stimme gibt seit dem Stimmbruch einfach nichts mehr her, und die richtigen Töne treffe ich kaum. Aber ich bin ein grosser Liebhaber von Gesang in allen möglichen Spielarten. Ich erfreue mich ab Konserve am spannungsgeladenen Timbre von Freddie Mercury, am emotionsgeladenen Blues von Janis Joplin und an den Haydn-Interpretationen von Gundula Janowitz, deren Stimme rein und ungekünstelt dahinfliesst wie ein Bächlein im Wald. Und in letzter Zeit ertappe ich mich dabei, dass mich Live-Jodelgesang mehr berührt, als ich noch vor zehn Jahren zuzugeben bereit gewesen wäre. Manchmal bis zu klammheimlichen Tränen.

 

Nur ich, ich bleibe gesangsabstinent. Auch im Gottesdienst, wo ich es einfach nicht fertigbringe, hörbar am Gemeindegesang teilzunehmen. Meist bewege ich nur die Lippen zum Text, und in seltenen Fällen hauche ich ganz, ganz leise etwas vor mich hin, denn schon das zweigestrichene d ist mir zu hoch. Und springe ich in meiner Not eine Oktave tiefer, zwingt mich die Melodie doch irgendwann wieder eine Oktave höher. Deshalb bleibe ich lieber stumm. «Man hat von dir wieder einmal nichts gehört», bekomme ich im Nachgang jeweils aus dem Familienkreis tadelnd zu hören.

 

Ja, so ist es: Ich singe nicht, trotz der Glückshormone, die es laut wissenschaftlichen Untersuchungen ausschütten soll, und trotz der verbindenden Komponente, die dem Chorgesang erwiesenermassen eignet.

 

Das heisst – und nun verrate ich ein gut gehütetes Geheimnis: Ich singe doch. Für mich allein und wenn es niemand hört. Während des Autofahrens, bei dicht geschlossenen Scheiben. Hier bin ich Opernsänger und schmettere mit krass tremolierendem Bariton zu improvisierten Melodien und pseudoitalienischen Texten schwülstige Arien, ziemlich falsch, aber herzhaft. Einmal wurde ich bei einer solchen Darbietung sogar belauscht, von einem kleinen, fröhlich lachenden Publikum. Es war Sommer, ich wartete bei Rot an einer Ampel und hatte vergessen, dass die Scheiben heruntergelassen waren. Danke für den Applaus.

 

Warum ich singe, trotz allem? Weil sich seit meiner Jugendzeit nichts an der Erkenntnis geändert hat: Singen ist eine überwältigende, ganzheitliche Erfahrung, die Seele, Geist und Körper in Einklang bringt. Die den singenden Menschen aus sich heraustreten und etwas von einer transzendenten Dimension erfahren lässt. Verbindet sich der Gesang auch noch mit Text, Mimik und Gestik, wird der Sänger, die Sängerin zum Mittelpunkt eines Gesamtkunstwerks. Singen ist meiner Ansicht nach nicht nur die höchste, sondern auch die urtümlichste aller musikalischen Künste, voll von archaischer Kraft und unbändigem Leben.

 

Weihnachten naht und damit der festliche Gottesdienst, an dem wir als Familie immer teilnehmen. Von den Meinen bin ich bereits ermahnt worden: «Diesmal wollen wir beim Singen aber etwas von dir hören.» Ich erwiderte nur: «Ihr werdet staunen. Ich werde für euch singen, und zwar so, wie ich jeweils für mich allein im Auto singe.» Tochter Zion, freue dich!