Gerade lese ich wieder ein Buch, das schauderhaft kompliziert aufgebaut ist. Eine Art Krimi. Mit Rückblenden, Ausblicken, mehreren Handlungsebenen, kaum überblickbarem Personal, normal Gedrucktem und kursiv Gesetztem – die reinste Textcollage, dargeboten in einer manieriert schroffen Sprache.
Ich weiss, dass derlei Akrobatik seit Erfindung der Schrift möglich ist, also schon ziemlich lange. Und weiss auch, dass kunstvoll aufgebaute Erzählungen etwas mit Erzählkunst zu tun haben. Und doch: So richtig wohl wird mir dabei als Leser oft nicht.
Das fängt schon bei herkömmlich komponierten Spannungsromanen an. Sagen wir mal: Ein Thriller hat zwei Handlungsstränge. Strang 2 wird gerade sehr, sehr spannend. Und just in diesem Moment hört das Kapitel auf. Und geht leider im nächsten Kapitel nicht weiter. Stattdessen nimmt der Autor den Faden von Strang 1 wieder auf, den er zwei Kapitel zuvor ebenfalls an der spannendsten Stelle hat abreissen lassen. Das nervt. Aber nicht auf eine anregende, sondern auf eine anödende Weise. Steigerung, Abbruch, Steigerung, Abbruch, Steigerung, Abbruch... Das ist nicht Kunst, das ist gekünstelt.
Ich plädiere dafür, Geschichten vermehrt wieder linear zu gestalten. Viele Erzählungen der grossen Meister kommen ohne den Kunstgriff des Cliffhangers aus. Goethe, Kleist, Eichendorff, Meyer, Mann und viele andere verfertigten die nachhaltigsten ihrer Werke ganz klassisch: Sie beginnen bei A, gelangen nach B, wandern weiter nach C und enden bei D. Trotz der strengen Chronologie sind ihre Geschichten mitreissend – weil sie mehr als bloss spannend sind. Sie sind gut.
Gute Geschichten sind nicht konstruiert, sondern erzählt. Thomas Mann hat keine komplexen Plots entworfen. Seine Geschichten sind denkbar einfach: Schriftsteller verliebt sich in Jüngling und steigt ihm nach (Der Tod in Venedig). Komponist verbündet sich mit dem Teufel, schwingt sich zu gewaltigen Höhen auf und wird schliesslich verrückt (Doktor Faustus). Angesehene Bürgerfamilie versinkt in der Dekadenz (Buddenbrooks). Nicht mehr, nicht weniger, linear durcherzählt vom Anfang bis zu Schluss. Und doch so tief, so brillant, so echt.
Echt wie die ersten Geschichten der Menschheit. Wenn der Steinzeitjäger Kurru seinen Leuten am Lagerfeuer rapportierte, wie er sich vor drei Tagen auf den Weg gemacht hatte, um die Rentierherde auszuspähen, dabei vom Weg abgekommen und in ein haarsträubendes Abenteuer geraten war – dann erzählte er fadengerade, schön eins nach dem anderen, ohne Trick und ohne doppelten Boden. Und die anderen hörten ihm gebannt zu und vergassen, dass er ein notorischer Flunkerer war.